veröffentlicht am 6. März 2019

Am 28. Februar 2019 folgten gut 50 Interessierte der Einladung der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) St. Josef Hollage in das Philipp-Neri-Haus. Dort trug der ehemalige Präsident des Europäischen Parlamentes Dr. Hans-Gert Pöttering seine Sichtweise auf den Zustand der Europäischen Union (EU) unter dem Thema „Europa – quo vadis?“ vor und stellte sich den Nachfragen seiner Zuhörerschaft.
Nach einleitenden Worten von Angelika Kampsen hinsichtlich der vielen Krisen und Herausforderungen in Europa und dem zunehmendem nationalistischen Denken einiger Mitgliedsstaaten betonte Dr. Pöttering dass wir als Christen Hoffnung und Zuversicht haben sollten. Anschließend nahm der Referent die Anwesenden im einleitenden Kurzreferat mit auf eine „kleine Reise“ und machte auf die aktuellen Entwicklungen in Russland, in Nigeria und nicht zuletzt in den USA aufmerksam und kam zum Schluss, dass „Europa nicht das Paradies, wohl aber der bessere Teil der Welt“ sei. Überdies stellte er fest, dass er früher als EU-Parlamentarier nichts zu sagen gehabt habe, das EU-Parlament jetzt aber stark und mächtig – und weitgehend gleichberechtigt mit den im Ministerrat zusammengeschlossenen Regierungen – agieren könne. Hier rief Pöttering zum ersten Mal auf, an der Europawahl teilzunehmen: Wir seien von Rechts- und Linksaußen herausgefordert; und wer die EU abschaffen wolle, verhalte sich friedens- und freiheitsfeindlich. „Jetzt geht es um etwas!“ so Hans-Gert Pöttering.

Danach ging er auf den sog. Brexit ein, der ihn geschockt habe. Denn trotz besonderer Rechte auch innerhalb der konservativen Fraktion im EU-Parlament habe der damalige britische Premierminister keine Verpflichtung gegenüber der EU verspürt. Cameron habe immer schlecht über Europa geredet; da müsse man sich nicht wundern, wenn innerhalb der Bevölkerung das Vertrauen verloren gehe. Und so sei diese fehlende Glaubwürdigkeit als Beginn der Trennung festzustellen. Überhaupt gehe es wieder um Krieg und Frieden: Eine Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland könne die alten Konflikte wieder aufbrechen lassen. Zudem käme – historisch neu – der Umstand dazu, dass sich ein amerikanischer Präsident über den Brexit freue, da er „nur mit den Einzelstaaten dealen“ möchte. Von Truman bis Obama hätten alle Präsidenten der USA die EU unterstützt und als starken Partner geschätzt, um gemeinsame Werte zu verteidigen. In der jetzigen Situation seien alle Mitgliedsstaaten deshalb mehr denn je herausgefordert, zusammenzuhalten und als europäische Union zu handeln. Dies gelte auch vor dem Hintergrund der Bestrebungen des derzeitigen russischen Präsidenten, Putin, die Sowjetunion wieder auferstehen zu lassen.
Dabei habe Deutschland sehr wohl selbstkritisch zu sein. Pöttering erinnerte an die Nord Stream-Problematik und an den Umgang mit der Flüchtlingskrise. Er warb bei den Zuhörern um Verständnis gegenüber Italien: Solange nur Italien mit den Flüchtlingen konfrontiert gewesen sei, pochte Deutschland auf die sog. Dublin-Verträge und ließ Italien alleine. Erst als Deutschland selbst Ziel des Flüchtlingsstroms wurde, sollten diese nach dem Wunsch Deutschlands innerhalb der EU verteilt werden. Und er erinnerte auch daran: Die Regeln des Maastrichtvertrages wurden zuerst von Frankreich und Deutschland verletzt.
Sein Referat schloss er damit ab, dass ein „nationales Schneckenhaus gefährlich“ sei. Dr. Pöttering sprach von seiner These der drei Identitäten: Für ihn stünden Heimat, Vaterland und Europa nebeneinander: Der Fokus nur auf die Heimat biete keinen Schutz, der Fokus nur auf das Vaterland führe zu Nationalismus und damit zu Kriegen und als ausschließlicher Europäer habe man keine Wurzeln.
Noch einmal warb er für die Teilnahme an der Europawahl, besonders vor dem fehlerhaften Denken, wir hätten seit 70 Jahren Frieden. Das stimme so nicht – wir haben seit 70 Jahren Frieden in der EU. Diesen gelte es zu sichern. Dabei müssten Meinungsverschiedenheiten zu den Herausforderungen der nächsten Jahre (Flüchtlingsfrage, Sicherung der Außengrenzen, Außen- u. Sicherheitspolitik) diskutiert und dann mit demokratischen Mehrheitsentscheidungen entschieden werden. Freiheit, Frieden und Recht könnten nur verteidigt werden, wenn wir es gemeinsam tun. Deshalb seien die Wahlen zum europäischen Parlament so wichtig.

Bei den von Franz Josef Strunk moderierten Nachfragen aus der Zuhörerschaft griff Pöttering zuerst die Frage nach dem aufkeimenden Populismus auf. Er wies darauf hin, dass schon Konrad Adenauer vermutete, dass alle 30 Jahre eine Geschichtsvergessenheit eintrete. Daher rief der ehemalige Eu-Präsident dazu auf, dass man nicht nur an den einzelnen Nationalstaat denke dürfe, sondern dass eine kluge Politik der Zugeständnisse insbesondere gegenüber Frankreich notwendig sei und die Ideen des dortigen Präsidenten Macron aufgegriffen werden müssten. Zum Punkt des drohenden unkontrollierten Brexits nannte Pöttering diesen völlig unkalkulierbar und äußerte die Hoffnung, dass es dazu nicht komme. Zur Frage des aufkommenden Separatismus beispielsweise der Katalanen, aber auch der Schotten, zeigte er auf, dass diese Entwicklung nicht so sehr für die EU („die Hoffnung der Separatisten“), sondern primär für die jeweiligen Nationalstaaten gefährlich sei.
Dann gab Pöttering auf mehrfacher Fragestellung einen Einblick zur großen EU-Osterweiterung und den damit verbundenen aktuellen Problemen. Er machte deutlich, dass diese Osterweiterung als Entgegenkommen zur deutschen Wiedervereinigung zu sehen sei: In der Nacht zum 3. Oktober 1990 fand mit der Aufnahme der neuen Bundesländer in die Bundesrepublik Deutschland die erste EU-Osterweiterung statt – erst 14 Jahre später (2004) folgten Polen und die anderen osteuropäischen Staaten! Wurde Deutschland also 1990 bevorzugt, so war man denn doch gegenüber Rumänien und Bulgarien letztendlich zu großzügig – wenngleich andererseits diese Erweiterung heute die bereits genannten Bestrebungen Russlands in diesem Gebiet verhindern hilft.

Nachdem Dr. Hans-Gert Pöttering abschließend auf Nachfrage deutlich machte, dass er „in Sachen Türkei ein reines Gewissen habe“ und man „in der Politik die Wahrheit sagen, aber respektvoll miteinander umgehen“ müsse, führte er aus, dass das Argument insbesondere der autoritären Staaten, es handele sich um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten, im 21. Jahrhundert nicht mehr geben dürfe. Auf Nachfrage bestätigte er die Auffassung, dass wir deutlicher und öffentlicher für Europa und unsere christlichen Werte – auch in der Öffentlichkeit – eintreten sollten und abschließend rief er insbesondere den anwesenden Jugendlichen zu: „Es ist euer Europa, es ist euer Jahrhundert“.

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